Die Krone sitzt schief. (2024)

laut.de-Kritik

Die Krone sitzt schief.

Review von Mirco Leier

Es wirkt fast wie eine Farce, dass Kanye Wests neues Album zum zwanzigsten Jahrestag seines Debüts erscheint. Die Diskrepanz zwischen dem ambitionierten Produzenten, der mit seinem größenwahnsinnigen Traum, Rapper zu werden, mal eben die Hip Hop-Welt auf den Kopf stellte, und dem psychischen Wrack, das Jahr für Jahr härter daran arbeitet, sein eigenes Vermächtnis zu zerlegen, war nie größer. Selbst als Fan seiner Musik kann man unmöglich leugnen, dass sich wie Kanyes mentale Verfassung auch seine Kunst seit "The Life Of Pablo" auf einer mehr oder minder ununterbrochenen Abwärtsspirale befand.

Das spiegelte sich ebenfalls in dem Drama und den Kontroversen, die mit jedem neuen Kanye-Album einhergehen, und gipfelte im Vorlauf dieses neuen Langspielers. Im Gegensatz zu nahezu allen vorherigen Releases, deren vorangehende Publicity Stunts mit dem ersten Drücken der Play-Taste vergessen waren, werfen Wests letztjährige antisemitische Ausfälle einen großen Schatten über dieses Album. Die eigentliche Entschuldigung dafür war keine, und so bekam "Vultures 1" schon lange vor dem erneut mehrfach verschobenen Release die Notwendigkeit auf den Leib geschneidert, Dinge wieder geradezurücken. Wenn schon nicht ausdrücklich in Textform, dann wenigstens mittels guter Musik.

Dass wir Ersteres nicht bekommen, dürfte niemanden überraschen. Kanye bleibt seiner stetig unerträglicher werdenden Edgelord-Persona treu und wählt erneut die Flucht nach vorne. Er könne ja nicht antisemitisch sein, weil er gerade eine jüdische Bitch gefickt habe, lautet seine Version einer Entschuldigung auf dem vorab veröffentlichten Titeltrack. "Vultures 1" bleibt diesem Punkt treu, ein simples 'Sorry' sucht man vergebens, stattdessen porträtiert er sich selbst als jemand, der den Widrigkeiten zum Trotz wieder an der Spitze steht. "I feel like a beat a murder", heißt es auf "Problematic", und entsprechend triumphal tönt auch Kanyes Rückkehr ins Rampenlicht. Wenn man ihn fragt, hat er sich nicht für etwas zu entschuldigen, sondern vielmehr zu feiern.

Fast tragischerweise, möchte man sagen, verhält es sich mit der eigentlichen Musik etwas anders. Die Single "Vultures" machte neben dem ekelhaften Inhalt auch musikalisch geradezu Angst vor diesem Album. Sie war eine künstlerische Bankrotterklärung, die ultimative Bestätigung, dass ein Mann, der sich öffentlich hinstellt und sagt, er findet Hitler toll, nicht mehr dazu imstande ist, gute Musik zu veröffentlichen. Das hatte fast schon etwas Beruhigendes, weil man, selbst wenn man die Kunst vom Künstler trennt, Kanye nichts mehr auf der Habenseite gutschreiben müsste.

Hört man nun jedoch "Vultures 1" in Gänze, so geht diese Rechnung nicht ganz auf. Nicht nur wird er in der Szene nach wie vor so sehr geschätzt, dass immer noch alle kommen, wenn er ins Studio bittet, die damit einhergehenden Sessions gebären allen Erwartungen zum Trotz auch einige der interessantesten und spaßigsten musikalischen Ideen, die wir seit langem auf einem Kanye-Album zu hören bekamen. So leicht es einem der Mann macht, ihn für seine öffentlichen Ausfälle zu hassen, so schwer fällt es, sich seinem nach wie vor vorhandenen musikalischen Handwerk zu verwehren.

Zu verdanken haben wir das nicht nur der extensiven Produzenten-Riege um Ye (unter anderem Timbaland, JPEGMafia, James Blake, LondonOnThaTrack, Wheezy, Mustard, No Id & 88-Keys), die im Tandem mit dem 48-Jährigen aus allen Rohren feuert, sondern auch seinem Kollaborationspartner Ty Dolla $ign, der das gesamte Album erdet. Er füllt die nötigen musikalischen Lücken, die aktuell in Kanyes Verstand klaffen, hält ihn davon ab, lyrisch komplett vom Weg abzudriften, und lässt das Album zu einem kohärentem Ganzen zusammenkommen.

In gewisser Weise verhält sich "Vultures 1" gegenläufig zu "Donda". Während Kanyes letztes Album ein breit geschnürtes thematisches Korsett auftischte, das der Rapper aus Chicago so mit Ideen vollstopfte, dass es am Ende aus allen Nähten platze, findet sich auf dieser LP ein deutlich enger gerichteter Fokus, dem allerdings so gut wie keine thematische Identität zugrunde liegt. Am ehesten lässt sich der Sound mit "Yeezus" vergleichen, doch wo dort am Ende Kanyes Liebe zu Kim die Welt wieder ins Lot brachte und seinen Wahnsinn zügelte, treibt letzterer ihn hier nur dazu, noch tiefer im Exzess abzutauchen, bis er sich einbildet, dass ihm tatsächlich die ganze Welt zu Füßen liege.

Auch wenn dieser LP in der Folge vielleicht die grandiosen Momente ihres Vorgängers fehlen, schlicht weil auch die emotionale Grundlage dafür nicht existiert, hält sie ein deutlich konstanteres Qualitätsniveau aufrecht. Kanye nimmt uns während der knappen Stunde Laufzeit mit auf eine Achterbahnfahrt, die von den Himmelspforten geradewegs in die Hölle rast. Vergessen ist der christliche Kern seiner letzten Platten, in die Kirche begibt sich Kanye höchstens noch, um den Messwein leer zu saufen.

Der grandiose Einstieg auf "Stars" und das nüchterne "Keys To My Life", in dem Kanye über ein Timbaland-Instrumental sein Herz öffnet, erwecken zuerst noch den Eindruck, dieses Album könnte tatsächlich eine autobiografische Richtung einschlagen. Doch schon auf "Paid" rücken die Worte in den Hintergrund, sobald der Amerikaner die Kickdrum anwirft. Was hier als relativ generischer House-Clubbanger beginnt, nimmt im weiteren Verlauf des Albums immer unorthodoxere und düsterere Abzweigungen. Der Mittelteil von "Vultures" liefert den Soundtrack für einen Stripclub, in dem Succuben an den Stangen tanzen.

Kanye gibt sich horny und hemmungslos wie selten, und die Instrumentals spiegeln dieses Gefühlsbild. "Hoodrat" vermengt ein fast schon dämonisches Spoken-Word-Sample mit einer Gospel-Hook zu einem der besten Kanye-Beats in jüngerer Vergangenheit. Auf "Paperwork" donnert immer wieder eine "Yeezus"-eske metallene Key-Line in das Instrumental, als versuche sie, Besitz von ihm zu ergreifen. Mit "f*ck Sumn" holt Jpegmafia die Chipmunks zur Satansmesse nach Memphis. Das stockfinstere "Carnival" bietet mit seinem grölenden Chor und den tonnenschweren Drums den perfekten Nährboden für eine absolute Monsterperfomance von Playboi Carti und fackelt den letzten Rest vom Fundament ab, der zu dem Zeitpunkt noch steht.

Über weite Strecken bleiben die Inhalte jedoch der entscheidende Faktor, der "Vultures 1" von dem artistischen Statement abhält, das es hätte sein können. Neben der bereits erwähnten ausbleibenden Anerkennung seines Fehlverhaltens wird es auch peinlich offensichtlich, dass Kanye im Grunde nichts mehr zu erzählen hat, das über seine typisch geschmacklosen One-Liner oder bemühte Versuche zu provozieren hinausgeht. Kanye mag auf vielen seiner Parts so lebendig wie lange nicht klingen, vergeudet aber nahezu jede Minute, in der tatsächlich etwas Licht ins Dunkel seines gemarterten Verstand scheinen könnte damit, dumme Witze zu reißen oder ein nur noch größeres, böseres Monster zu beschwören.

Das muss nicht immer gleich einen Song ruinieren, viele seiner Bars sind klassischer Kanye-Humor, dem ein verspielter, juveniler Charme innewohnt. Wenn er auf "Back To Me" etwa erst rappt: "I put nerds on the map / Now there's Urkel in your bitch / Did I do that?", und den Rest seiner Parts damit verbringt, die Line "Beautiful naked big titty woman just don't fall out the sky, you know?" mit solcher Hingabe zu wiederholen, dass ihm fast die Tränen in die Augen steigen, dann macht das einen Heidenspaß. An anderer Stelle, wie auf "Hoodrat" oder "Carnival", wenn er sich mit Bill Cosby und R. Kelly vergleicht und gleich zweimal ein giftiges 'whor*!' ins Mikro spuckt, sabotiert er mit billigster Provokation seinen eigenen Song. Anstelle darüber zu lachen, möchte man ihm am liebsten das Maul stopfen.

Um so schwerer wiegen deshalb auch die wenigen Momente der Klarheit, die aus dem vernebelten Fiebertraum dieses Albums herausragen. "Burn" etwa fühlt sich wie ein kurzes Luftholen an, wie eine Reminiszenz aus einfacheren Tagen. Nicht nur, weil der sonnige Soul-Sound buchstäblich an seine Karriere-Anfänge erinnert, sondern auch, weil Kanye einen rar gesäten Moment der Introspektion an den Tag legt: "Who's not entertained by my pain / Who ain't cash a check off my name / When my campaign turned to canned pain / I burned eight billion to take off my chains." So wenig diese Worte im großen Ganzen bedeuten mögen, zeigen sie dennoch, dass hinter diesem medial Amok laufenden Monster immer noch ein Mensch zu stecken scheint, der durchaus dazu fähig ist, zu reflektieren, wenn auch vielleicht nicht über die entscheidenden Dinge.

Auch dem grandiosen "Beg Forgiveness", dessen karges Klangbild wie ein Hybrid aus "808s" und "Donda" anmutet, wohnt eine tiefe Traurigkeit inne, die ultimativ nur angerissen wird. Ausgerechnet Chris Brown liefert den vielleicht besten Gastbeitrag der LP und stimmt ein gespenstisches Gebet an, das Kanye den denkbar breitesten Teppich ausbreitet, dem Titel tatsächlich gerecht zu werden, nur damit er anschließend halbherzig darübertrampelt. Das hält den Song jedoch nicht davon ab, in seiner zweiten Hälfte einen dieser monumentalen Momente auf einem Kanye-Album zu beschwören, wenn das Gebet aus dem Intro in eine stampfende industrielle Hymne kippt, die sämtlichen Schmerz aus Ty Dolla $igns Stimmbändern herausexorziert.

Spätestens hier hat man sich damit abgefunden, dass man auf "Vultures" andere Emotionen als Horniness und Arroganz wie Brotkrumen suchen muss, und "Good (Don't Die)" liefert vielleicht den schönsten der gesamten LP. Es wirkt wie der einzige Moment, der losgelöst von all dem Drama stattfindet, das dieses Projekt umhüllt. Ein meditativer Mikrokosmos, in dem Dolla und Kanye umhüllt von einer engelsgleichen Donna Summer-Interpolation durch ein warmes Nichts treiben und einem für ein paar Sekunden das genuine Gefühl geben, dass man die letzten zwei Jahre nur geträumt hat.

Kanye braucht allerdings nicht lange, um uns vom Gegenteil zu überzeugen. Mit "Problematic" findet das Album eigentlich einen angemessenen Abschluss, der Kanyes neu gewonnen Unabhängigkeit mit größtmöglicher Fanfare und neu gewonnenem Hunger über ein klassisches Soul-Sample breittritt. Doch natürlich muss er noch eine Ehrenrunde drehen, die kaum unverdienter sein könnte, und erinnert uns mit "King" daran, welche Kontroversen er jüngst überwinden konnte. 'Crazy, bipolar, antisemite' hätten sie ihn genannt, und immer noch sei er der King.

Damit verstärkt er erneut den Eindruck, dass er die Kritik an sich als etwas sieht, das es zu überwinden, nicht zu widerlegen gilt, als würden 'King' und 'antisemite' einander aufheben. So selbstverständlich er mit Samples umgeht (Wieso sollte jemand ihm denn bitte nicht das Recht geben, fremde Musik zu benutzen, er ist Kanye West?!), so begegnet er auch dem Diskurs um seine Person. "Vultures" Mission-Statement ist es, sein Publikum mit einem guten Album wieder davon zu überzeugen, dass sie den Falschen gecancelt haben, dass Kanye immer noch so essentiell wichtig für die Musikindustrie ist, dass ein #1-Album ihn von sämtlichen Anklagen freispricht. Doch in diesem Fall würden Worte tatsächlich lauter sprechen als Taten.

Die Krone sitzt schief. (2024)

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